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Birgit Wiesenhütter


Ulrike Gerst.

Malerei Kreuzkirche Nürtingen, 13. März – 10. April 2022

 

 

Die Idee zu dieser Ausstellung entstand in der Stiftung Ruoff, hier in Nürtingen. Dort begegnete Ulrike Gerst der Stifterin Hildegard Ruoff und es entspann sich ein Gespräch über Malerei, über den dänischen Maler Vilhelm Hammershøi (1864-1916), über Licht und Raum und über die Malerei von Ulrike Gerst. Frau Ruoff war interessiert, wollte Gersts Arbeit gerne kennenlernen und so wurde verabredet, dass die Malerin bei ihrem nächsten Besuch aus Freiburg, einige Arbeiten mitbrachte – und so geschah es dann auch.

Bei ihren Besuchen machte Ulrike Gerst Fotos in den Räumen der Stiftung Ruoff, wie sie es immer macht, wenn ihr etwas auffällt, sie etwas interessiert. Es ist eine Möglichkeit, sich die Realität zu erschließen, sie aber auch zu befragen – nach ihrer Struktur, ihrer Atmosphäre, ihrem potentiellen Geheimnis. Fotografien sind Ausgangspunkt von Ulrike Gersts Arbeit. Im Atelier setzt sie die gewählten Ausschnitte in Malerei um. So entstand das Werk „Villa Ruoff“ (Nr. 20). Bereits der Titel macht deutlich: Es geht der Malerin nicht um die Institution (die Stiftung), sondern um den Raum, den spezifischen Ort (die Villa).

Raum und Licht bestimmen das Bild – nicht nur in ihrer Präsenz, sondern auch in ihrer Ambivalenz. Wo hört der Innenraum auf, wo beginnt die Terrasse? Die trennende Fensterscheibe verzerrt subtil den Blick. Die ganze Situation wirkt wie entrückt, in der Zeit gebannt und still. Trotz der Leere ist der Mensch in Denken und Handeln spürbar.

 

In Ulrike Gersts Arbeiten erlebt das Reale eine Transformation. Durch einen spezifischen Ausschnitt, die Perspektive, den Zoom wandelt die Künstlerin das Gesehene. Es entsteht ein Moment der Distanz und Fremdheit. Bei aller Gegenstandsbezogenheit, die schon aus dem Akt des Fotografierens der realen Umwelt resultiert, bringen die Aus- bzw. Anschnitte der Gegenstände auch abstrakte Qualitäten in die Bilder. Die Künstlerin löst das Gesehene aus seiner Umgebung und schafft neue Zusammenhänge.

Besonderes Interesse hat Gerst an Spiegelungen, die die Situation verunklären, Grenzen auflösen und sich zuweilen ins Ornamentale, Ungegenständliche entwickeln, wie beispielsweise bei den Arbeiten der Serie Cairo I (Nr. 2, 4, 16 – 18) oder den Springbrunnenbildern. Oftmals sind es bezeichnenderweise Situationen des Übergangs, die zum Thema werden: Fenster, Treppen, Eingänge. Der verdrehte Rolladen in „Serie Born“ (Nr. 1) scheint beinahe ein Eigenleben zu führen und mit den Schatten an der Wand im stillen Dialog zu stehen. (Dieses Bild war auch auf der Ausstellung “Fensterbilder“ der Kunstpreisausstellung der Kulturstiftung der Kreissparkasse Karlsruhe 2021 zu sehen.)

Gersts Bilder sind erfüllt von einer nahezu meditativen Stille. Diese Atmosphäre von Ruhe und Konzentration vermittelt dem Betrachter die widersprüchliche Sicherheit eines nicht endenden Augenblicks in einer von Ort und Zeit entbundenen Welt, die immer menschenleer ist und doch die Präsenz von Menschen suggeriert. Diese Atmosphäre wird verstärkt durch die subtilen Tonwerte ihrer Ölgemälde und Aquarelle – manchmal nüchtern in tonigen wenig bunten arben, dann aber auch knallig und farbintensiv wie in der „Serie Marsa Alam“ (Nr. 5, 6, 15). Die delikaten Farbklänge betonen ihre Eigenständigkeit als Malerei. Neben die Realität des Gegenstandes setzt Gerst die Realität des Bildes.

 

Das Alltägliche wird bei Ulrike Gerst zu einem intimen Raum, der je nachdem wie man ihn betrachtet, erzählt oder schweigt. Durch die distanzierte, nüchterne Darstellung wird ein Bild von der Künstlerin nicht mit einer persönlichen Bedeutung aufgeladen und bleibt somit für den Betrachter offen. Letztlich sind wir herausgefordert, die Dinge neu zu betrachten und die Poesie und Ästhetik dieser Räume wahrzunehmen.

Birgit Wiesenhütter

Einführungsrede zur Eröffnung der Ausstellung "Kunst in der Klinik"
im Universitäts Herzzentrum Bad Krozingen am 1. Mai 2016


Zum ersten Mal habe ich vor fast 17 Jahren (1999) über Arbeiten von Ulrike Gerst gesprochen. Seitdem habe ich mich immer wieder gerne mit ihrem Werk beschäftig (2005 durfte ich hier in Bad Krozingen schon einmal eine Ausstellung eröffnen), und dabei ist mir nie langweilig geworden. Wenn man rückblickend auf ihre Arbeit schaut, erkennt man durchaus Konstanten – die wichtigste davon wahrscheinlich ihre beständige Bezugnahme auf die reale Welt. Was sich ändert, sind die Orte, auf die sich ihre Arbeiten beziehen, reale Orte, die meist im Bildtitel erscheinen. Wie diese Orte aber von der Wirklichkeit zu Malerei und zum Bild werden, ist ein subtiles Spiel. Spannend bleibt immer, was durch ihren Blick auf die Welt und ihre Malerei aus den wirklichen Orten wird. In ihren neuesten Arbeiten treibt sie dieses Spiel noch weiter als bisher.

Zu Ulrike Gersts Konstanten gehört auch ihre Vorgehensweise: Sie nähert sich der Wirklichkeit zunächst mit dem Fotoapparat, hält fest, was sie interessiert. Dann wählt sie weiter aus: das Foto, den Ausschnitt, manches wird weggelassen, die Farbigkeit wird verändert. So entfernt sie sich zusehends von der Wirklichkeit. Das Fotografierte wird mehr und mehr zum Spielobjekt, zum bloßen Ausgangspunkt.

Was die Künstlerin interessiert, sind Strukturen. Die findet sie oft an Gebäuden: die Aufteilung einer Fassade, ein Gitter, Treppen und Säulen. Das alles sind handfeste Dinge. Dazu kommt das Interesse für die Erscheinungen des Lichts: Reflektionen und Schatten. Sie geben manchen Bildern regelrecht den Rhythmus (wie z.B. im Bild Messehalle Freiburg von 2013). Sie können den eigentlichen Gegenstand auch verfremden. So in einem Bild der Serie Columbia von 2013: Der Busch, der ausschnitthaft vor einem Haus zu sehen ist, erscheint auf der Häuserwand als Schatten riesengroß, überdeckt die Architektur und wird zum ornamentalen Thema. Ein Bild der Serie SF Houses von 2015 zeigt ein Fenster mit halb herabgelassener Jalousie, darüber legt sich geheimnisvoll der Schatten einer Straßenlaterne oder eines Pfostens. Am unteren Bildrand sehen wir als schmales Band ein angeschnittenes Gitter, das mit seinem verschlungenen Muster einen seltsamen Gegensatz zu der Einfachheit des Fensters bildet. Ein formales Spiel entsteht, das von Bild zu Bild unterschiedlich starke Abstraktionstendenzen zeigt. Bei der beschriebenen Arbeit ist es ein Spiel heller Flächen gegen dunkle, strenger geometrischer Formen gegenüber der verspielten Struktur am unteren Bildrand und dem fast skurril erscheinenden Schatten.

Gegenständlichkeit und Abstraktion changieren in Ulrike Gersts Bildern. Manchmal hat man fast den Eindruck eines Vexierbildes. So erscheinen zwar die Baumkronen in einem Bild der Serie SF Houses von 2016 verschmolzen zu einer einzigen großen amorphen Form, trotzdem bleiben sie als Bäume erkennbar. Als Kontrapunkt am unteren Bildrand ist ein Gitter zu sehen, das wir als solches interpretieren müssen, weil es keine nennbaren Anhaltspunkte dafür gibt, was es ist. Eigentlich ist es bloß eine geometrische Struktur. Der Anschnitt bzw. Ausschnitt, den Ulrike Gerst wählt, führt bereits dazu, dass das Ding selbst seines Inhalts und seiner Funktion enthoben ist. Tatsächlich handelt es sich um den Anfang der Golden Gate Bridge in San Francisco. Die Gitter dieser Brücke sind bekanntlich rot. Für die Künstlerin hätte dies ein farbliches Element ins Bild gebracht, das ihr zu viel war. Daher die farbliche Änderung.

Diese Tendenz der Aufhebung von Funktionalität und Inhalt der Bildgegenstände wird in den neuen Arbeiten noch gesteigert, und zwar durch die zunehmende Betonung des Ornamentalen. Das sehen wir in dem bereits angesprochenen Bild aus der Serie Columbia von 2012, in dem der Schatten eines Busches die Hauswand aufzulösen scheint. Besonders zum Ausdruck kommt dies aber in der Serie Cairo. Muster spiegeln sich in Glaswasen und Glasscheiben, auf Tischen und Tabletts, manchmal sind es doppelte Spiegelungen, verzerrte Spiegelungen, die ein Muster mehrfach aber verändert zeigen. Was war nun der eigentliche Gegenstand, was seine Spiegelung, wo fängt der Gegenstand an, wo hört er auf? – Der Realität nachzuspüren wird mehr und mehr erschwert, sie zerfällt geradezu im Ornament.

Die Strenge von früheren Arbeiten wird hier gebrochen. Dies hat sich bereits in älteren Serien (Proberaum, 2010/11) gezeigt, in denen ein Interesse für Ornament und Muster erkennbar wurde. In der Serie Cairo ist die Verfremdung und Auflösung des Sujets bis zum Äußersten getrieben und eigentliches Thema des Bildes geworden.

Trotzdem behält Ulrike Gerst die Klarheit ihres Bildaufbaus bei, ihre Malerei besticht durch eine akkurate Malweise und eine äußerst subtile Farbgebung. In den sorgfältig ausgearbeiteten Aquarellen der Serie Cairo ist die Farbigkeit sehr zurückhaltend, am wichtigsten wird das Weiß des Papiers, das als höchste Helligkeitsstufe das Licht repräsentiert und in Spiegelungen das Blatt überzieht. Man bekommt beinahe den Eindruck, man hätte es mit einem Foto-Negativ zu tun.

Diesen Eindruck hat man auch bei den Springbrunnen der Serie Mexikoplatz. Das Wasser als Projektionsfläche des Lichts scheint eine sich aufzulösende Form darzustellen. Diese Auflösungstendenz wird durch die Unschärfe im Bild noch verstärkt. Der Maler Gerhard Richter gab auf die Frage, warum seine fotorealistischen Bilder so unscharf aussähen, einem Journalisten zur Antwort: „Wie kann Ölfarbe unscharf aussehen?“. Das ist eine Antwort, die von jedem realistischen Wiedererkennungseffekt wegführt hin zu einem Verständnis von Malerei, in dem die Farbe als Material und Gestaltungsmittel an erster Stelle kommt. Richter macht damit klar, was aus seiner Sicht ein Bild eigentlich ist, nämlich zunächst Farbe. In seiner Antwort kommt ein Verständnis von Malerei zum Ausdruck, das deren Autonomie als Selbstverständlichkeit voraussetzt, das nicht den dargestellten Gegenstand, sondern die Farbe in den Mittelpunkt stellt und mit Fotografie als Abbildung der Wirklichkeit in keinerlei konkurrierendem Verhältnis steht.

Aus dem formalen Spiel mit Formen, Farben, Strukturen, Licht und dem Changieren zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit werden bei Ulrike Gerst Bilder von besonderer Atmosphäre. Menschenleer wirken sie seltsam entrückt und geheimnisvoll. Die Aufmerksamkeit, die die Künstlerin den Orten, die sie fotografiert und dann malt zu Teil werden lässt, scheint nicht nur das Sujet, sondern auch die Zeit festzuhalten und zugleich aufzulösen. Wie aus der Zeit gehoben, fixiert und unbeweglich wirken die Bilder. Man fühlt sich an ein Filmstill erinnert. Die jeweilige Szenerie strahlt Ruhe und Klarheit aus, in die man als Betrachter eintauchen kann.

Die Sachlichkeit der Arbeiten steht in einem bemerkenswerten Verhältnis zu ihrer dichten Atmosphäre. So entsteht Raum für erzählerische Momente, für die Skurrilität einer windzerzausten Palme, die über dem Liniennetz der Oberleitungen wie ein Wischmopp wirkt, oder für die Poesie eines Springbrunnens am Mexicoplatz in Berlin, dessen Wasserstrahl wie Tropfen aus Licht über die Leinwand perlt. Die erzählerische Qualität von Ulrike Gersts Bildern erfüllt der Betrachter selbst.

Caroline Käding

Das unbekannte Vertraute, September 2011

Öffentliche Plätze, Straßenabschnitte, aber vor allem Innenräume sind die bevorzugten Motive in der Malerei von Ulrike Gerst. Die menschenleeren Ansichten halten nicht übermäßig alte, aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammende Räume, Gebäudefassaden oder Spielplätze fest. Ihr malerisches Werk ist von starken Gegensätzen geprägt. Möbel, Architektur oder Gegenstände lassen sich jeweils recht genau datieren, die Gemälde selbst wirken jedoch zeitlos. Diese sind in ihren gedeckten und leicht verblichenen Farben wie von einer Patina aus vergangener Zeit überzogen, gleichzeitig sind die Ansichten jedoch kühl und ihre objektive Wirkung lässt kein sentimentales Gefühl zu.

Bildtitel verweisen meist auf konkrete Orte, wie etwa bei der Serie der Messehalle oder der des Restaurants „Ballhaus“ in Berlin, die, wenn man einmal dort gewesen ist, durchaus wieder erkennbar sind. Die Bilder stehen eher für bestimmte Raumtypen, als dass sie individuelle Räume charakterisieren. Vielmehr sind es archetypische Ansichten aus früheren Zeiten, die trotz ihres topografischen Bezugs nicht lokalisierbar sind. So, als liefere der konkrete Ort der Künstlerin den Vorwand formal angelegte und standardisierte Bilder zu generieren. Entsprechend scheinen die einzelnen Elemente in der großformatigen Serie „Messehalle Berlin“, 2010 (S.3) rein um ihretwillen dargestellt, der aufgeblähte Vorhang, das Terrassengeländer sowie die regelmäßige Baumreihe im Hintergrund. Wir sehen einen relativ schmalen Ausschnitt eines neutralen Innenraumes und durch dessen Fensterfront einen streng horizontal gegliederten, ebenso neutralen Außenraum dahinter.

Gerst nimmt in ihrer Auseinandersetzung mit Malerei filmische Qualitäten auf. Ihre Innen- und Außenräume erscheinen wie auf eine Kinoleinwand projiziert oder auf Filmplakate gebannt – so zweidimensional und szenisch erscheinen sie. Die Verbindung der unzeitgenössischen Architekturen mit ihren Innenausstattungen aus dem Zeitraum der 1940er bis 1960er Jahre und der zurückhaltenden Farbigkeit erinnert an den Film „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais, an die Filmästhetik der Nouvelle Vague. Die visuelle Bildästhetik bei Gerst besitzt eine verwandte optische Klarheit und einen geometrischen Aufbau. Die Art und Weise, wie in der Serie „Messehalle Berlin“ 2010 (S.3) das gezackte Geländergitter im Vordergrund die Pappeln im Hintergrund spiegelt, wodurch die Tiefenillusion aus dem Bild verdrängt wird, steht der Flächigkeit einzelner Resnaisscher Filmszenen nahe.

Geöffnete Türen, Fenster oder Vorhänge werden in der Malerei gerne als Metaphern für Illusion und Durchsicht eingesetzt. Im Gegensatz dazu betont ihr Erscheinen in der Serie „Messehalle Berlin“ aber geradezu, dass unser Blick an der vordersten Bildebene abprallt und nicht in das Bildinnere eindringen kann. Obwohl motivisch eine Tiefe angelegt ist, entwickelt sich keine illusionistische Räumlichkeit und mehr noch: Auch die Luft zum Atmen scheint abhanden gekommen zu sein. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass keine menschliche Präsenz in Gersts Bildern zu finden ist. Falls doch, wäre sie nur in Form von Chiffren, als ausgeschnittene und in das jeweilige Szenario collagierte Figuren, vorstellbar. Ähnlich wie das Paar in Resnais’ Film, das sich außerhalb eines konkreten geschichtlichen und sozialen Zusammenhangs bewegt, Zusammenhänge, die auch in Gersts Ansichten nicht bestimmbar sind.

Ulrike Gerst schöpft in ihrem Werk unterschiedliche Qualitäten von Malerei aus. Zu den Grundfragen der Malereidiskussion gehört die Infragestellung des Bildes als Illusionsraum durch die medial vorgegebene Zweidimensionalität. Ermöglicht Fotografie nach wie vor einen direkteren Zugang zur Wirklichkeit ist Malerei pure Fiktion, und das zeigen Gersts Gemälde. Denn obwohl sie als Serie – nebeneinander gehängt und mit der sorgfältig detailgetreuen Ausarbeitung – eine Umgebung schaffen, sind sie für die Dokumentation eines Ortes ungeeignet. Das einzelne Bild enthält keine Erzählung, sondern ist ein isoliertes Szenario, das nicht Teil einer großen weiten Welt ist, aber unseren Orientierungssinn für den sichtbaren Ort irritiert.

So erweist sich in der Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen der Malerei die Desorientierung als eines der wesentlichen Merkmale in Gersts Werk. Im Aquarell „Tankstelle Zähringen“, 2011 (S.13) isoliert sie die Architektur aus einem räumlichen Zusammenhang. Das Gebäude schwimmt auf leerer Fläche, ohne dass wir seine Größe bestimmen oder es kontextualisieren können. Trotz des Titels, der auf diese Tankstelle im Freiburger Stadtteil Zähringen verweist, wird der topografische Bezug in der Darstellung aufgehoben. Wie der Architektur über dem weißen Aquarellpapier entzieht Gerst auch unserer Wahrnehmung den Boden unter den Füßen: Wir wissen nicht recht, wie und wo die Tankstelle zu verorten ist. Die ursprüngliche Vorlage für das Aquarell, das von der Künstlerin stets selbst angefertigte Foto, ist nicht mehr verfügbar, und es wird deutlich, dass sie in der malerischen Umsetzung eine neue Wirklichkeit erfindet. Das eigentlich vertraute Gebäude wird durch den ungewöhnlichen modellhaften Ausschnitt und die fehlenden Größenverhältnisse zu einer mysteriösen monumentalen Form entfremdet. Unterstützt wird das durch das Nichtvorhandensein eines Firmenlogos, Werbung und anderer Informationen bezüglich der Funktion des Gebäudes, wodurch der Abstraktionsgrad der Architektur zu einem universalen Bild gesteigert wird.

Anders scheinen in der kleinformatigen Serie „In The Dusk“, 2008 (S.8-9), die nach einem New York Besuch der Künstlerin entstanden ist, die Straßenausschnitte auf Anhieb vertraut. Selbst wenn wir nicht genau sagen können, wo sie sich befinden, lassen sich amerikanische Orte vermuten. Wasserspeicher und über den Straßen hängende Ampeln sind mit Amerika assoziierbare Zeichen. Offensichtlich sind diese Ansichten enger an ihre fotografischen Vorlagen angelehnt, erkennbar an den gewählten Ausschnitten und dem atmosphärischen Bildlicht der rötlichen Abenddämmerung. Dieselbe Situation ist mehrmals festgehalten, und damit die Vergänglichkeit des Augenblicks. In der malerischen Umsetzung wird die Signalwirkung der bekannten Zeichen der fremden Kultur wieder zurückgenommen – die Malerei lässt das Bild geheimnisvoll wirken. Darin bleibt sich die Künstlerin auch in dieser Serie treu.

In Hinsicht auf das Thema bildet diese Serie allerdings eine Ausnahme. Üblicherweise widmet sich Gerst ihrer eigenen Kultur und Umgebung, meistens Deutschland. Hotelzimmer, Restaurants und Probenraum, Tankstelle, Tischtennisplatte, Kinderspielzeug – uns allen alltäglich-vertraute urbane Plätze, Gebäude und Gegenstände – werden von ihr wie unbekannte Orte oder Objekte betrachtet und im Medium Malerei fixiert. Sie verfremdet jedes Mal erneut unser bekanntes Terrain und unsere gewohnten Ansichten. Auf einmal erscheint die Tischtennisplatte als Vehikel, wie ein Boot, das auf seinem eigenen Schatten wie auf einem Fluss schwimmt.

In der Art, wie Gerst das Verhältnis von Raum und Zeit behandelt, wird die eingangs erwähnte, zeitlose Wirkung ihrer Werke hervorgerufen. Explizit verbildlicht das die Serie mit dem Kreiselmotiv. Ein solches Spielzeug muss bewegt werden damit es seinen Zweck erfüllt, es dreht sich in einer Zeitspanne, dann kippt es um. Festgehalten ist das Bewegungsmoment bei den beiden Aquarellen der Serie „Kreisel“, 2009 (S. 15) in den Schatten. Ein Schatten ist immer eine Projektion, entwirft ein Bild von etwas und besetzt dadurch einen figurativen Raum. Hier symbolisiert er, dass die Bewegung und damit die Zeit angehalten wird. Darüber hinaus scheint das weiße Papier die Luft aus der Darstellung gepresst zu haben, das Objekt wird vom immateriellen Grund ausgeschnitten und der verzerrte Schatten betont die Künstlichkeit und Unwirklichkeit der Darstellung – eine Fiktion entsteht, die letztlich nur abstrakte Form ist.

Solche Bildgegenstände, etwa altmodisch anmutendes Spielzeug wie ebensolche Innenräume und Gebäude, weisen auf ein gewisses sehnsüchtiges Verlangen nach der Vergangenheit hin. Obwohl Ulrike Gerst in ihrer Malerei offensichtlich die Vergangenheit bezeugt, wird sie nicht enthüllt, sondern bleibt unerreichbar. Dass die Sehnsucht so unsentimental übermittelt wird, deutet auf ein Misstrauen der Künstlerin gegenüber dem Bild hin, das wir von der Vergangenheit haben.

Dr. Fritz Emslander

Zur Eröffnung der Ausstellung in der GFjK Baden-Baden am 04.05.2008


Ulrike Gerst's Motive sind zahlreich und doch verwandt: Mehr oder weniger zufällig findet sie schrullige Hotellobbys, in denen Polstermöbel wie gealterte Bewohner hausen; in ihrer verlebten Monumentalität trostlose Speisesäle blinzeln im Morgenlicht. Voyeuristisch späht die Künstlerin in die Enge abgestellter, im Winterschlaf befindlicher Wohnmobile; in Glücksfällen öffnet sich ihr eine verlassene, faszinierend-unheimliche Welt wie die des ehemaligen Volksbads in Berlin; einzelne Gegenstände aus Interieurs werden in radikal gewählten Ausschnitten zu ebenso viel sagenden wie rätselhaften Stillleben.

Der zunächst fotografisch bewehrte Blick der Künstlerin fällt auf Alltägliches, Unbeachtetes und Unscheinbares, das aber – in Malerei übersetzt – immer wieder eine eigentümliche atmosphärische Spannung von Vertrautheit und Fremdsein, Nähe und Distanz in einem entfaltet. Die dargestellten Räume und Dinge scheinen beredt von ihrer Nutzung zu erzählen, ohne aber ihr Geheimnis preiszugeben. Sichtbare Lebensspuren stimulieren die Vorstellung des Abwesenden, doch die Räume bleiben menschenleer.

Der Ansatz ist eher intuitiv: Statt das Ergebnis einer Recherche in Form einer Dokumentation vor uns auszubreiten, fängt Ulrike Gerst kleine poetische Momente ein, klammert sich an einzelne Erinnerungen, an Raumstimmungen, die sie zu suggestiven Situationen verdichtet. Sie hält sie fest in hochsensiblen Farbklängen, die mal satt schimmern, mal dunstig verschwimmen, mit spürbarem Interesse an der Stofflichkeit der Dinge und einer teils filmisch wirkenden Lichtregie. Im Spiel mit Licht und Schatten – so in den zwei Ansichten eines Hotelflurs – wird immer wieder die Malerei selbst zum Thema.

Innerhalb einzelner Bildräume wie auch innerhalb der Bildserien, etwa vom Foyer des Hotel Palma, spielen zudem auch bei Ulrike Gerst die gewählten Standpunkte und Blickrichtungen eine wichtige Rolle. Die verschiedenen Perspektiven auf eine eng unterm Fenster zusammengerückte, gemischte Ledersitzgruppe bringen die Polstermöbel wie die Protagonisten eines Kammerspiels in verschiedenen Konstellationen in Beziehung – zueinander, zum Innen- und zum Außenraum.

Im Hotel Riga, Station einer Reise durchs Baltikum, meint man in eine vertrauliche Unterhaltung zwischen zwei pompösen Art Deco-Sesseln geraten zu sein: Beinahe berühren sich Ihre elegant ausgestellten Beine und lassen vergangene Tête-à-têtes zwischen reichen Russen assoziieren, die das vornehme Badhotel seit dem 19. Jahrhundert frequentierten. Die feierliche goldene Vase ist in dem querformatigen Bild dergleichen Serie gegen eine gelbe Wand getauscht: Der Raum, nach Vorne gegen den Betrachter durch eine rote Armlehne abgeschirmt, löst sich hinter den üppigen Polstersesseln in ein Gebilde aus Farbflächen auf, das durchaus als zweidimensionales abstraktes Gemälde sowjetisch-modernistischer Prägung zu lesen wäre. Wie in vielen anderen Werken Ulrike Gersts scheinen für einen Moment der Stille – im Bild festgehalten: eine kleine Ewigkeit – Geschichte und Geschichten in diesem Hotel, dem Ort des Durchgangs, angehalten zu sein.

Susanne Buckesfeld

Zur Malerei von Ulrike Gerst


Die Malerei von Ulrike Gerst beginnt mit dem Aufspüren von außergewöhnlichen Räumen, die einen unmittelbaren, nicht nur optischen Reiz auf die Künstlerin ausüben. Zumeist handelt es sich um das Innere verlassener oder lang schon veralteter Gebäude, die der Künstlerin nur mehr zufällig in den Blick geraten, und deren visuell vermittelte Erfahrung sie schließlich in Malerei transformiert. Ausgerüstet mit ihrer Kamera macht Gerst sich auf zu diesen merkwürdigen, aus dem Alltag herausgehobenen Orten, so etwa in ungenutzten Schwimmbädern, zu den Plätzen abgestellter Wohnwagen oder in verstaubten Hotel-Lobbys, um sich das Vorleben dieser Orte zu vergegenwärtigen und ihrer jeweiligen Atmosphäre nachzuspüren. Auf Grundlage der zuvor entstandenen Fotografien beginnt Gerst mit ihrer Malerei, die sie in Serien zu den jeweiligen Orten anfertigt. Gelegentlich entstehen außerdem poetische Texte zu den räumlichen Entdeckungen, mit denen Gerst das Erlebte und Verspürte in Worte fasst. Dabei überschreitet ihre Kunst fühlbar die persönliche Erfahrung und die Historie der besuchten Orte.

Denn obwohl sie verlassen und ungenutzt sind, scheinen die Interieurs in den Gouachen und Ölgemälden etwa der Serien Wohnwagen oder Hotel Riga wie seltsam beseelt – durch die intensive, satt schimmernde Farbigkeit entsteht eine suggestive Anziehungskraft, die den Betrachter gerade deshalb in ihren Bann zu schlagen vermag, da die Wirkung des Materials Farbe ebenso wenig zu fassen ist wie die konkrete Geschichte der nur in Ausschnitten gezeigten Räume. Es ist zudem die besondere Lichtregie, die dazu führt, dass die auffällige Leere dieser Räume geradezu filmische Wirkung besitzt – tatsächlich sind Sitzgruppen, Stuhlreihen oder die auffällig gestalteten Lampenschirme die eigentlichen Protagonisten dieses rein malerischen, nicht-narrativen Plots. Sie scheinen dennoch beredt von ihrer Nutzung zu erzählen, ohne dabei je ihr Geheimnis preiszugeben. Da das Mobiliar und die teils scharfen Schlagschatten wie in einem Hitchcock-Film die eigentliche Bedeutung eines Raumes nur andeuten, entsteht eine psychisch aufgeladene Spannung, die in den Gemälden von Ulrike Gerst ungelöst bleibt. Entsprechend sind Fensterkreuze, Lampen und Stühle selten  in ihrer Gesamtheit zu erkennen, sondern werden durch den Bildrand begrenzt, so dass sie ebenso gegenständlich wie abstrakt erscheinen und kaum zur Auflösung der Raumgeschichten beitragen. Vielmehr dienen Ulrike Gerst Farbklang und Komposition in erster Linie dazu, physisch erlebbare Räume in ihrer Malerei visuell so zu verdichten, dass sie gleichsam körperlich spürbar werden, obwohl Gerst die Präsenz menschliche Figuren niemals ausformuliert und ihre Raumgefüge abgesondert von genauen Zeit- und Ortsangaben existieren. Tatsächliche Räume werden daher zu vorwiegend abstrakten Gebilden, die ein rein intuitives Erfassen von uns einfordern. Dies gilt auch für die wenigen Ansichten von Außenräumen, die Ulrike Gerst uns etwa in ihrer Serie Park zeigt. Der alte Federball-Platz wird nur mehr vom Licht bespielt, das auf der Rasenfläche strahlend helle Flecken hinterlässt. Dennoch mögen vor dem inneren Auge des Betrachters Gruppen vergnügt Spielender vorbeiziehen wie verblasste Erinnerungen, die auf den leeren Rasen wie auf eine Kinoleinwand projiziert werden. Jenseits des Dokumentarischen geht es Ulrike Gerst also in erster Linie darum, in ihren Kompositionen die im Verborgen liegende Geschichte und den emotionalen Gehalt der Räume, die sie uns zeigt, zu vermitteln. Dabei bringt sie die Spuren ihrer längst vergangenen Nutzung mit malerischen Mitteln gleichsam zum Sprechen. Das Ergebnis ist eine Verschränkung von Raum und Zeit, die überdies auf innere Räume des Menschen verweist. Nicht nur zu individuellen Vorstellungsräumen regt Gerst uns im Akt der Betrachtung an - die Gemälde Ulrike Gersts sind Sinnbilder seelischer Räume, die - auch wenn sie brach liegen - einen kaum greifbaren Nachhall in unserem Inneren bewirken.

 

Birgit Wiesenhütter

 

Einführungsrede zur Ausstellung "Unorte, Herzzentrum Bad Krozingen, 31.09.2005

 

Ein unbeachtetes Eck, ein unerwarteter Blick, die unbemerkte Ästhetik eines unscheinbaren Raumes: die Malerin Ulrike Gerst bringt diese Dinge in ihren Bildern auf Leinwand und Papier. Unter dem Titel „Unorte“ sind hier Bilder aus den Serien „Wohnmobile“ und „Volksbad/Berlin“ zusammengefasst. Sie zeigen Interieurs, denen gemeinsam ist, dass die Malerin selbst keinen persönlichen Bezug zu ihnen hat. Es handelt sich um Örtlichkeiten, an denen sie selbst sich nicht aufhalten möchte. Damit ist von vorneherein Distanz zum Motiv da.

Die Wohnmobile und Wohnwagen stehen in Freiburg an einem bestimmten Platz, wenn sie gerade nicht gebraucht werden. Verlassene Behausungen, denen sich Ulrike Gerst voyeuristisch mit der Kamera genähert hat. Ihren Bildern gehen stets Fotografien voraus, die für sie Anhaltspunkt und Gedankenstütze sind. Aus den Fotografien wählt sie einen Ausschnitt, der in seinen Anschnitten und Ausblicken stets spannungsvoll ist, und setzt diesen dann frei um.

Der Blick ins Innere eines Wohnmobils zeigt Einbaumöbel und Fenster angeschnitten, vielleicht einen Vorhang, der aber nichts Anheimelndes bringt. Die Situation ist kühl und aufgeräumt, der Raum nur minimal beschrieben. Wie eine sachliche Bestandsaufnahme sind die Gegebenheiten in hochsensiblen Farbklängen festgehalten und entfalten eine eigentümliche Atmosphäre von Vertrautheit und Fremdsein, Nähe und Distanz.

Das Motiv des Fensters kehrt immer wieder. Aber es ist nicht das sehnsuchtsvolle Motiv der Romantik. Nein, hier ist alles auf sich selbst konzentriert. Ruhig und gedämpft, wie durch einen Filter gesehen wirken die gedeckten Farben; die Spiegelungen und Reflexe scheinen in ein selbstvergessenes Spiel mit sich versunken zu sein. Alles ist auf das Innere des Ortes konzentriert, der Blick nach draußen erinnert nur, dass es das auch noch gibt.

Ulrike Gerst zeigt ein Stück verlassene Zivilisation. Sie interessiert sich für Lebensspuren, sagt sie selbst, für stattgefundenes Leben in Abwesenheit. Die Abwesenheit von Menschen gibt den Ort frei für den Betrachter, der sich als unbeteiligter Besucher dort aufhalten darf.

Lebensspuren verfolgt die Künstlerin auch in ihrer jüngsten Serie: „Volksbad/Berlin“. Das 1928 erbaute Gebäude in Berlin-Lichtenberg ist verlassen und birgt viele Relikte vergangener Zeiten. Die Menschenleere wirkt unheimlich an einem Ort, der einst so voller Leben war und nun vergessen scheint. Unerwartete Blicke begegnen dem Betrachter und führen ihn wiederum gerade dorthin, wo selten jemand so genau hinschaut. Die Ästhetik und Atmosphäre, die Ulrike Gerst diesen Orten abgewinnt, heben diese aus ihrem vergessenen Alltagsdasein heraus und geben ihnen eine neue, eine malerische Existenz.

Malerisches Interesse und malerische Umsetzung orientieren sich bei Ulrike Gerst an der Wahrnehmung. Darin ist sie der impressionistischen Vorgehensweise nahe. Licht, Schatten, Spiegelungen und Reflexe werden zu sensiblen Farbnuancierungen. Bei aller Gegenständlichkeit der Bilder sind sie Basis des Werkes und der Grund zum Malen. Die glatte Malweise und die Motivwahl lassen hingegen eher an eine realistische Stilebene denken. In Ulrike Gersts Atelier fiel mir eine Postkarte auf, die das Gemälde „Balkonzimmer“ von Adolph von Menzel zeigt. In diesem Bild von 1845 werden das Licht, die Atmosphäre und die Farbe voll in das Sinnenerlebnis aufgenommen, so dass es als Vorwegnahme des Impressionismus gesehen werden kann. Sinnenbezogen ist auch der Raum in diesem Bild Menzels aufgefasst als Stück des natürlichen Umraums, der die Bildwirklichkeit mit der Realität des Betrachters zusammenfließen lässt. Auch dies ganz im Sinne des Impressionismus. Ein Aspekt, der auch auf Ulrike Gersts Arbeiten zutrifft und den Betrachter zum Besucher werden lässt.

Zwingend ist in Ulrike Gersts Räumen auch der Faktor Zeit beheimatet. Die Vergangenheit des dargestellten Ortes scheint festgehalten zu sein. In der Gegenwart des Betrachters wirken die Gegebenheiten nun zeitlos und beständig, gebannt für alle Zeiten, zuverlässig und treu.

Ulrike Gersts Räume strahlen eine geradezu meditative Ruhe aus, sind voll atmosphärischer Dichte. Die Poesie einer einsamen Lampe oder eines Vorhangs kann sich in leisen Tönen entfalten. Das Alltägliche, an dem man sonst nur vorübergeht, wird zu einem intimen Raum, der je nachdem wie man ihn betrachtet, erzählt oder schweigt. Durch die distanzierte, nüchterne Darstellung wird ein Bild von der Künstlerin nicht mit einer persönlichen Bedeutung aufgeladen, das Dargestellte wird nicht bewertet und bleibt somit für den Betrachter offen. So ebnet die Künstlerin den Weg, einzutreten und den Raum mit seinen eigenen Erfahrungen und Emotionen zu besetzen.

Claudia Wheeler

 

/ rbb – Kulturradio Berlin im Gespräch mit Irene Eikmeier / MAE Galerie Irene Eikmeier, gesendet am  4.08.2004

 

Musik: „Würden Sie mit mir in meinem Wohnwagen wohnen wollen? Ach ,das wäre fein.“


C.W.: Ulrike Gerst würde diese Frage mit einem klaren „Nein“ beantworten. Für sie sind Wohnmobile `Unorte`, nichts worin sie ernsthaft leben möchte. Und doch, oder vielleicht gerade deshalb beschäftigt sich die Malerin mit diesen Orten, hält sie mit ihrer Fotokamera fest, um sie später auf die Leinwand zu bringen.

I.E.: Die stehen in einer bestimmten Straße in Freiburg, in der Zeit, in der sie nicht genutzt werden und wirken einfach unbenutzt und verlassen. Und sie ist da wohl, ich weiß nicht wie oft, dran vorbei gegangen und irgendwann hat sie reingeschaut und hat da rein fotografiert. Und diese Wohnmobile, die ja normalerweise immer in Bewegung sind, die ja eigentlich ein Wohnort sind, mit dem die Menschen sich woanders hin bewegen, die stehen da und schlafen im Prinzip.

 

C.W.: Das Wohnmobil wird bei Ulrike Gerst  zum  Stillleben. Sie interessiert sich für die Stimmung des Raumes. Die Fotos dienen ihr nur als Vorlage, als Gedankenstütze. Sie reduziert die Räume auf ein Minimum. Sie wählt einen kleinen Ausschnitt und bringt diesen mit zarten Pastelltönen auf große Leinwände; die Ecke eines kleinen Klapptisches, die Rundung einer Sitzecke oder ein angeschnittenes Fenster, in dem sich ein weißer Vorhang leise bewegt.

I.E.: Die Vorlagen sind oftmals komplett überarbeitet, d.h. das, was als Vorlage da ist, sieht eigentlich völlig anders aus als das, was sie dann auf der Leinwand draus macht. Sie trans-formiert eigentlich etwas in diese Bilder, d. h. sie kriegen etwas Wertvolles.

C.W.: Die Räume sind menschenleer, ruhen vollkommen in sich, auch wenn in jedem Bild ein Fenster auftaucht. Nicht die kleinste Andeutung einer Außenwelt, sie ist ausgeblendet. Ein-same  Orte, die in ihrer Ästhetik an Edward Hopper erinnern.

I.E.: Sie hat vor einigen Jahren eine Serie gemacht, das sind Autobahnbilder. und die hat sie aus dem Autofenster raus fotografiert und dann eben auch auf dieses Format gebracht. Aber auch diese Bilder wirken verlassen, obwohl da ganz viele Autos sind, und da ist eine Raststätte und da sind Bäume und Büsche. Auch diese Bilder wirken einsam, verlassen – strahlen so `ne Ruhe aus.

C.W.: Ulrike Gerst verführt den Betrachter, ihr weicher Pinselstrich, ihr Umgang mit Licht und Schatten verleiht unspektakulären und eigentlich hässlichen Orten eine Schönheit, dass man sich auf einmal nichts Herrlicheres vorstellen kann, als in einem Wohnwagen zu leben.

 

Paul Klock

 

im Interview mit Ulrike Gerst, am 12.12. 2003 (zu hören im Internet:  www.regioartline.org)

 

Frau Gerst, Sie interessieren sich laut eigener Aussage weniger für die Schönheit von Dingen und Räumen als für ihre Hässlichkeit und selbst die stellen Sie nur ausschnitthaft dar. Was hat es mit diesen `Unräumen`, wie Sie sie bezeichnen, auf sich?

Also zunächst finde ich diese Räume nicht hässlich. Es ist nicht so, dass ich diese Räume suche. Sie begegnen mir einfach in meinem Alltag. Entweder ein unrenoviertes Hotel oder einfach ein Bahnwärterhaus, ein entlegenes, das nicht mehr als Bahnwärterhaus genutzt wird in Freiburg und nun ein Atelier von Freunden ist, oder die Freiburger Stadthalle, die ja wirklich von einigen als hässlich bezeichnet wird, die ich aber überhaupt nicht hässlich finde. Unräume für mich insofern, dass es keine Räume sind, zu denen ich einen emotionalen Bezug habe oder in denen ich je gelebt habe oder je leben wollte.

In letzter Zeit beschäftige ich mich mit Wohnmobilen, und da wollte ich also schon gar nicht leben. Wobei es ja viele gibt, die das gerne mögen, aber ich mag sie nicht so. Es sind eher Räume, zu denen ich keinen direkten persönlichen Bezug habe, aber auf einer gewissen Ebene natürlich schon. Irgend etwas spricht mich an diesen Räumen schon an. Vielleicht eher die Leere, die diese Räume haben – eine gewisse Unbehaustheit.

Vor einigen Jahren haben Sie eine Motivreihe gemalt, die aus Fotos aus dem fahrenden Auto heraus entstand, also sehr willkürlich getroffen wurde. Welchen Blick haben Sie auf die Wirklichkeit, und wie nähern Sie sich der Realität? In Inszenierungen? An den Zufälligkeiten interessiert Sie möglicherweise gerade etwas ,was andere vielleicht gar nicht sehen.

Bei den Fotos, die ich aus dem Auto heraus gemacht habe und die dann Malvorlage waren, ging es mir um die Auseinandersetzung mit Landschaft. Ich habe mir überlegt, wie nehme ich Landschaft wahr. Da fiel mir auf, dass der größte Teil meiner Landschaftswahrnehmung aus dem Auto heraus passiert und zwar von der Rheintalautobahn, auf der ich jeden Tag fahre – vierzig Kilometer eine Strecke und vierzig Kilometer die andere. Und so fing ich an, Fotos zu machen. Die Sichtweise sollte möglichst so sein, wie ich sie als Fahrer erlebe. Deswegen habe ich den Fotoapparat einfach aus dem Auto gehalten und abgedrückt. So entsteht natürlich ein willkürlicher Ausschnitt. Ich kann ja nicht durchschauen, das wäre doch etwas zu gefährlich. An der Willkürlichkeit fand ich den Ausschnitt spannend, weil eigentlich immer ein gutes Foto entstand, das von der Proportion sehr stimmig war, obwohl ich es nicht ausgesucht hatte.

Das heißt, Sie haben quasi von den Fotos einen Teil weg gelassen und den Teil vom Foto herausgenommen, den Sie dann auf die Leinwand gebracht haben?

Ja.

Und das war sozusagen auch der Akt der Inszenierung dann?

Ja, so könnte man das nennen. Mein Sinn für die Wirklichkeit hat sich erweitert. Dadurch, dass ich mehr schaue, nehme ich auch mehr wahr; das ist ein Wechselprozess. Mein Blick hat sich jetzt etwas verlagert auf Stadtarchitektur oder mittlerweile auch auf Räume, die mir einfach begegnen. Und als Gedankenstütze mache ich Fotos.

Und Sie malen immer nach Fotos?

Ja, immer.

Ist das auch eine Erleichterung, was die Formatierung angeht, bzw. wenn Sie zum Beispiel Ausschnitte malen, dass das dann eine einfachere Orientierung ist?

Ja, auf jeden Fall. Ich wähle den Ausschnitt – in der letzten Zeit bei den Räumen – bestimmt aus. Dadurch ist natürlich schon eine Vorauswahl getroffen. Wobei ich dann manchmal noch vom Foto einen Ausschnitt nehme, den ich dann als Malvorlage benutze.

Sie malen gern in Serien. Eine heißt `Serie Bad`, eine andere `Serie Bahnwärterhaus`. Es gibt auch eine Serie `Wohnmobile` oder `Wohnwagen`, denke ich.

 

In gewissem Sinn gehen Sie vor wie eine Forscherin, die versucht, möglichst viele Seiten einer Sache kennen zu lernen. Das heißt, Sie malen ein Motiv nicht nur einmal, sondern in einer Serie von mehreren Bildern. Welchen Teil diese Sache möchten Sie darstellen? Den figurativen, den konkreten oder einen metaphysisch-atmosphärischen?

Ich glaube am ehesten diesen  metaphysisch-atmosphärischen. Mich interessiert besonders die Stimmung eines Raumes. Die Stimmung kann dann auch durch einen einzelnen Gegenstand dargestellt sein, den ich dann versuche, so zu malen, dass die Stimmung des Raumes wiedergegeben wird. Wenn dann auch Betrachter sagen, dass sie dies so empfinden, merke ich, dass es mir gelungen ist, denn es ist schwer, das zu planen. Es stellt sich meistens ein oder auch nicht, glücklicherweise aber doch oft.

Was mir aufgefallen ist, dass die Gegenstände bzw. das Motiv zwar sozusagen eher ein hässliches Motiv ist, aber trotzdem diese Bilder dann einen bestimmten Glanz haben, der diese hässlichen Motive fast wieder auf  gewisse Weise  verklärt.

Ich nehme ja oft ganz unspektakuläre Dinge, die ich einfach aussuche oder die mir auffallen- gerade in ihrer Bedeutungslosigkeit. Dadurch, dass ich sie aussuche und bearbeite, werden sie  in gewisser Weise erhöht. Ich nehme sie aus ihrem Zusammenhang heraus und setze sie in einen neuen Zusammenhang und bearbeite sie. Vielleicht werden sie dadurch in Anführungszeichen `schön`, weil ich sie ja speziell als Gegenstand erhebe und wenn es nur ein Stuhlbein ist. Ich erhebe sie zum Bildgegenstand und dadurch ergibt sich vielleicht diese  -Verklärung kann man nicht sagen - dieses Erhabene, oder es wird vielleicht doch etwas `Schönes` daraus.

Sie sind einerseits Künstlerin, zum zweiten unterrichten Sie an einer Schule für Lernbehinderte. Wie sehr wird Ihr Leben von Ihrer Tätigkeit als Künstlerin geprägt, und wie ist der Blick auf die Welt dadurch bestimmt? Nehmen Sie als Künstlerin sozusagen die Dinge stärker wahr, anders wahr?

Ja, das denke ich schon. Ich merke auch, je mehr ich Dinge wahrnehme oder auch Fotos mache, um meine Eindrücke festzuhalten, umso mehr nehme ich die Dinge auch wahr. Das ist auf jeden Fall ein reziproker Prozess, der auch meine innere Wahrnehmungswelt und auch meine Wahrnehmungsfähigkeit die letzten Jahre sehr gesteigert hat.

Zu meiner Doppeltätigkeit als Lehrerin – es ist einfach viel und oft belastend; es ist schon ein Spagat, der für mich sehr schwierig ist. Grundsätzlich arbeite ich gerne in der Schule, gerne als Lehrerin; ich arbeite gerne mit Kindern. Die Arbeit an der Schule gibt natürlich meiner Arbeit, meinem Leben eine Struktur, die auch ganz förderlich ist. Dass ich eben morgens in der Schule bin, nachmittags im Atelier. Dieser Zeitplan, dieses Zeitgerüst gibt mir eigentlich viel Disziplin, um meine künstlerische Arbeit zu machen.

Aber Sie sind derzeit dabei, sich zu überlegen, ob Sie sich mal für eine Zeit lang beurlauben  lassen, um nur Ihrer künstlerischen Arbeit nachzugehen.

Ja, seit Sommer wird der Konflikt stärker, der jedoch nicht in der Sache liegt, d.h. an der Schule, sondern einfach in der doppelten Belastung, die ich einfach groß finde. Ich würde mich gerne mehr, d.h. nur um Kunst kümmern und deswegen überlege ich, mich beurlauben zu lassen, zunächst für ein Jahr.

Wie ich gesehen habe, sind Sie auch künstlerisch tatsächlich im Moment in einer sehr entscheidenden Phase, und das macht sich auch bemerkbar. Vor kurzem haben Sie für Ihre Arbeiten einen Preis erhalten. Was ist das für ein Preis gewesen?

Der Kleinbasler Kunstpreis.

Und der wurde im Rahmen der Regionale verliehen?

Ja, im Ausstellungsraum Klingental.

Wie wichtig sind solche Auszeichnungen für die Motivation weiterzugehen, oder versucht man das bisher Erreichte erst mal zu stabilisieren?

Ja, beides. Als Bestätigung ist es auf jeden Fall sehr wichtig, auch eine Bestätigung von außen zu bekommen. Bei all den Zweifeln,  die ich immer wieder habe, ist es auf jeden Fall sehr schön, so eine Bestätigung von außen zu bekommen. Weitermachen wäre keine Frage gewesen, da ich ohnehin weitergemacht hätte Aber die Motivation stärkt sich sehr.

Und Ihre Arbeiten sind derzeit in Klingental zu sehen im Rahmen der Regionale?

Ja

Und wo genau in Klingental?

Im Kunstraum Klingental in der Kasernenstraße in Basel

Ich bedanke mich für das Gespräch

Caroline Käding
Dr. Fritz Emslander
Susanne Buckesfeld
Birgit Wiesenhütter
Claudia Wheeler
Paul Klock
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